In letzter Zeit wird das Problem „Kannibalismus“ wieder häufiger beobachtet. Auslöser können ein hoher Keimdruck, unausgewogene Futterrationen, ungünstige Klimaverhältnisse oder ein Genetikwechsel sein. Das Problem „Kannibalismus“ ist zwar ein alter Hut, wird aber in letzter Zeit wieder vermehrt be-obachtet. So sollen in den Niederlanden in 70 % der Betriebe derartige Probleme auftreten. In Deutschland sieht die Situation nicht viel besser aus, schwankt aber regional selbst innerhalb der schweinedichten Regionen. Über die Gründe, warum dieses aggressive Fehlverhalten der Tiere untereinander in letzter Zeit wieder häufiger beobachtet wird, kann nur spekuliert werden. Diskussionspunkte hierzu werden im nebenstehenden Kasten aufgeführt. Fakt ist, dass i. d. R. mehrere Faktoren aus den unterschiedlichsten Bereichen diese Verhaltensstörung hervorrufen können. Daher gibt es auch keine Universallösung, die für alle Betriebe passt. Große Schäden Oft gehen die Probleme von einzelnen Tieren in der Bucht aus, wobei soziale Rangkämpfe der Auslöser sein können. Die Aggressoren suchen nach Möglichkeiten, ihren Trieb zu befriedigen, und es kann zum typischen Schwanz- und Ohrenbeißen kommen. Kennzeichnend für alle „Kannibalismusprobleme“ ist die Gier nach Blut, welches den Schweinen angenehm salzig schmeckt. Die Schäden, die diese Verhaltensstörungen verursachen, sind groß: Tierverluste oder Kümmern durch chronische Schäden; Verluste durch Teil- bzw. Totalverwürfe am Schlachthof; Mangelnde Aufzucht- und Mastleistungen aufgrund permanenter Unruhe; Katastrophale Selektionsraten in der Jungsauenaufzucht, denn alle Tiere mit Ohrrand- und/oder Schwanznekrosen sind i. d. R. nicht zuchttauglich; Erhöhter Medikamentenbedarf: Um das „Streuen“ bakterieller Sekundärerreger kurzzuhalten, müssen in der Ferkelaufzucht oder Mast in der Regel mehrere Behandlungsintervalle durchgeführt werden; Imageschaden: Bilder von gehäuft vorkommenden „Kannibalismusproblemen“ werfen tierschutzrechtliche Fragen auf. Auch die Verbraucher sowie der Einzelhandel reagieren hochsensibel auf eine derartige Problematik. Wegen der gravierenden gesundheitlichen, wirtschaftlichen und tierschutzrelevanten Auswirkungen muss bei Problemen zeitnah eine betriebsspezifische Analyse erfolgen und ggf. Spezialisten hinzugezogen werden. Dabei ist zu unterscheiden, ob der Schwerpunkt der Problematik eher das Schwanz- oder das Ohrenbeißen ist bzw. welche Altersgruppen vermehrt betroffen sind. Die Gier nach Blut Das typische Ohrbeißen, das bevorzugt im Flatdeck- oder Aufzuchtstall beobachtet wird, ist in engem Zusammenhang mit Stressbelastungen zu sehen. Bei Stress werden die Körperhormone Adrenalin und Cortisol vermehrt ausgeschüttet, die zu einer verminderten peripheren Durchblutung führen. Kommt es dann zu kleinen Verletzungen am Ohr, so heilen diese aufgrund der verringerten Durchblutung schlecht ab. Der Juckreiz bei der Abheilung lässt die Tiere beim Beknabbern und Beschnüffeln durch die Buchtengenossen stillhalten. Als Folge entstehen große Wunden, die dann mit diversen Keimen besiedelt werden. Das Ohrbeißen tritt besonders bei frühzeitigem Absetzen der Ferkel auf, wobei man davon ausgeht, dass es eine Ersatzhandlung für verlorene Zitzen darstellt. Bei genauer Beobachtung lassen sich Angreifer und Angegriffene unterscheiden. Letztere weisen typische Bisswunden am hinteren Rand der Ohrmuschel auf. Weitere Ursachen können Hautreizungen durch Räudemilben sowie Hautentzündungen sein. Auch die früher im einschlägigen Jargon als „Blutparasiten“ bezeichneten Mycoplasma suis, die das Krankheitsbild der Eperythrozoonose hervorrufen, gelten aufgrund der durch diesen Erreger verursachten Durchblutungsstörungen der Endstrombahnen mit nachfolgender Nekrose als Wegbereiter des „Ohrkannibalismus“. Auch Haltungsfehler können dieses Fehlverhalten auslösen. So hat man be-obachtet, dass Ohrenbeißen oft in Ställen mit falsch eingestellter Ventilation auftritt, das heißt, wenn zu häufig oder zu selten ein Luftaustausch erfolgt. Bekanntlich können zu hohe Luftgeschwindigkeiten von über 0,2 m/Sekunde im Tierbereich die Aktivität und damit die Aggressivität erhöhen. Gleiches wird auch bei zu hohen Schadgaskonzentrationen beobachtet. Auch können zu nahe am Ohrrand eingezogene Ohrmarken die Ursache sein bzw. die Symptomatik verstärken. Als fütterungsbedingte Ursache wird zudem u. a. mycotoxinbelastetes Getreide diskutiert. Gefahr durch aufsteigende Infektionen Setzt sich dieses aggressive Verhalten fort, kommt es zum so genannten Schwanzbeißen. Anfangs ist oft nur eine kleine Rötung oder Quetschung am Ende des Schwanzes sichtbar, später erfolgt eine Schwellung und offene Wunde mit zylinderartiger Verdickung des Schwanzes. Durch Wundinfektionen kann es dann zu einer in die Tiefe gehenden Verletzung mit Abwanderung der Infektion in den Wirbelkanal und häufig späterer Hinterhandlähmung oder Abszessbildung im Wirbelkanal kommen. Als Ursache sind Mangelzustände nicht ausgeschlossen, wobei besonders der Eisenmangel diskutiert wird. Oft sind es aber Faktoren wie unzureichende Haltungsbedingungen, die zu Panikzuständen führen. Auch kann die Futtermenge zu knapp bemessen sein bzw. es liegt ein ungenügendes Fress-/Tierplatzverhältnis vor oder die Tiere haben Probleme mit der Tränke- und Fütterungstechnik. Die Ausprägung der Symptome ist dabei stark managementabhängig. Wichtig hierbei ist, möglichst schnell den Aggressor ausfindig zu machen und aus der Gruppe zu entfernen. Typisches Merkmal ist häufig der blutbeschmierte Rüssel. Ungenügend kupierte Schweine fördern das Geschehen, insbesondere dann, wenn der Schwanz ständig in Bewegung ist und somit zusätzlich einen optischen Reiz für das „Augentier Schwein“ bietet. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine Verwurmung oder Darmentzündung vorliegt. Fütterungsfehler ausschließen In letzter Zeit werden vermehrt unausgewogene Futterrationen in Zusammenhang mit „Kannibalismusproblemen“ gebracht. Denn die rasant gestiegene Kannibalismussymptomatik vieler Betriebe ist im zeitlichen Zusammenhang mit der Verteuerung einzelner Futterkomponenten bei gleichzeitig niedrigen Erlösen für die Schweine und Ferkel zu sehen. Durch Futterumstellungen ist es dann zu Mangelsituationen oder Verdaulichkeits- bzw. Akzeptanzproblemen gekommen, die letztlich die Probleme ausgelöst haben dürften. Deshalb ist darauf zu achten, dass die Rationen stets altersgerecht zusammengestellt werden, um so Proteinmangelsituationen zu vermeiden. Aber auch zu hohe Proteingaben oder ein inkorrektes Aminosäurenprofil können die Ursache sein. Dies gilt insbesondere bei Ferkeln und Vormastschweinen. Um Akzeptanzprobleme auszuschließen, sind zudem plötzliche Futterwechsel zu umgehen, indem die Rationen über mehrere Tage verschnitten werden. In Stresssituationen und bei Krankheitseinbrüchen ist der Vitaminbedarf der Tiere unter Umständen erhöht. Des Weiteren kann eine hohe Energiedichte des Futters zu einer geringeren Futteraufnahme führen. Demzufolge müssen die Futterinhaltsstoffe bei einem energiedichten Futter höher konzentriert sein, vor allem Aminosäuren, Mineralien und Spurenelemente. So arbeiten dänische Schweinehalter i. d. R. mit einem deutlich höheren Phosphor-Calciumgehalt und einem höheren Aminosäurengehalt, insbesondere auch mit hohen Lysin- und Methioninzulagen. Daneben sollten Wasserversorgung, Wasserqualität und Durchflussmengen regelmäßig geprüft sowie eine ausreichende Anzahl an Tränken je Bucht, möglichst in zwei unterschiedlichen Höhen angebracht, vorgehalten werden. Management verbessern Auch das Einstallmanagement und die Haltungsbedingungen sind zu überprüfen. In einem Fall hatte es bereits genügt, die Rangkämpfe nach dem Einstallen wirkungsvoll zu unterbinden, indem homogene Tiergruppen möglichst aus wenigen Würfen gebildet wurden. Schwanzbeißen kommt in rein männlichen Gruppen doppelt so häufig vor wie in weiblichen Gruppen, so dass in diesem Falle eine gemischtgeschlechtliche Aufstallung vorzuziehen ist. Auch sollte das Zusammenstellen neuer Gruppen möglichst abends unter Aufsicht ggf. mit Abdunkelung erfolgen, da die Tiere vormittags deutlich aktiver sind. Ferner sind zu hohe Besatzdichten, die die Individualerkennung und damit den schnellen Aufbau einer festen Rangordnung beinträchtigen, zu vermeiden. So sollten 0,7 m2 pro Mastschwein bereits mit 40 kg LG zur Verfügung stehen, weil Spieltrieb und Bewegungsdrang in diesem Altersabschnitt noch höher sind. Zur Vermeidung des Schwanzbeißens wird in der Praxis das Kürzen der Schwänze vorgenommen. Dies ist möglich, wenn sonstige Vorsorgemaßnahmen das Problem nicht verhindern können. Gleichzeitig sollte aber auf geeignetes Ablenkungsmaterial geachtet werden. Dabei sind Gegenstände, die das „Kauen“ fördern, zu bevorzugen. Auch die Gruppenbehandlung mit Tranquilizern in der Eingewöhnungsphase (Stresnil-Gaben) bzw. die Verabreichung „dämpfender“ Substanzen über das Futter (Magnesiumverbindungen, Methionin) sollten in Erwägung gezogen werden. Auch neue Böden bzw. die Erstbelegung von Ställen, deren Betonboden noch rau ist und damit zu Hautverletzungen führen kann, führen u. U. zum vermehrten Auftreten von Kannibalismus. Denn die auftretenden Verletzungen setzen dann wieder den Teufelskreis „Blutgier“ des Augen- und Nasentieres Schwein in Gang. Eine Entgratung der Stallböden vor Erstbelegung, kombiniert z. B. mit einer Laugenbehandlung, lohnt hier allemal! Fazit Die Verhaltensstörung „Kannibalismus“ führt zu Verletzungen, die erhöhte Ausfälle, Wachstumsdepressionen und Verwerfungen am Schlachtband nach sich ziehen. Kennzeichnend für dieses Problem sind schlechte Futterverwertungen sowie eine deutliche Überschreitung der Ausfallrate von 2 % in der Mast. Bei der Ursachensuche sind alle möglichen Faktoren systematisch abzuarbeiten: Von der Stalltechnik über das Management und dem Futter bis hin zu systemischen Erkrankungen als direkte Verursacher. Um den Status quo zu erfassen, sind zunächst die Tierbeobachtungen auszuweiten und Auffälliges möglichst schriftlich festzuhalten. Bei größeren Defiziten ist rechtzeitig ein Experte z. B. für Fütterung, Lüftung, Tiergesundheit oder Stallbau hinzuzuziehen, um den Schaden zu begrenzen. Dies setzt Vertrauen und bedingungslosen Informationsaustausch aller Beteiligten voraus und stellt ein Puzzle mit vielen Bausteinen dar, für das bislang keine Universallösung vorhanden ist.