Der Wunsch nach vitalen, gruppentauglichen Schweinen wächst. SUS hat mit BHZP-Zuchtleiter Dr. Hubert Henne über Fortschritte diskutiert.
Heinrich Niggemeyer, SUS
Die Gesellschaft fordert, Tierwohl und -gesundheit weiter zu verbessern. Kommt die Zucht dieser Forderung nach?
Henne: Die Zucht kann nicht nur Leistungsmerkmale, sondern je nach Erblichkeitsgrad auch weitere Merkmalskomplexe bearbeiten. Darunter fallen sogenannte funktionale Merkmale. Beispiele hierfür sind Gesundheit, Fitness und Stabilität der Tiere. Diese haben heute bei der Zuchtarbeit eine größere Bedeutung.
Warum kümmert sich die Zucht erst jetzt um diese Merkmale?
Henne: Funktionale Merkmale finden schon seit Langem in Zuchtprogrammen Beachtung. Allein die Berücksichtigung der Fundamente und Robustheit der Tiere hat Tradition. Jetzt werden einige dieser Merkmale stärker berücksichtigt oder es kommen neue hinzu. Zum einen lässt das erreichte Leistungsniveau z.B. bei der Wurfgröße es zu. Zum anderen sind Haltungsformen angepasst worden, die neue Eigenschaften wie die Gruppenverträglichkeit einfordern. Mit der Entwicklung zu freien Abferkelsystemen wird auch das Verhalten der Sauen gegenüber Ferkel und Mensch in den Fokus rücken. Auch ruft die Verbannung der betäubungslosen Kastration neue Kriterien wie den Ebergeruch auf. Zusätzlich führen neue Methoden zur Berücksichtigung von Merkmalen, die bislang nicht effizient zu bearbeiten waren.
Welche funktionalen Merkmale sind konkret im Zuchtziel verankert?
Henne: Für die Mutterlinien ist die Aufzuchtleistung immer stärker gewichtet worden. Dazu zählen die Saugferkelverluste, die Anzahl und Verteilung der Zitzen inklusive Gesäugequalität und die individuellen Geburtsgewichte sowie deren Streuung im Wurf. Mit der Gruppenhaltung der Sauen ist deren Sozialverhalten etabliert worden und die Fundamente haben weiter an Bedeutung gewonnen. Bei den Vaterrassen kommt beispielsweise der Ebergeruch hinzu.
Honoriert der Markt dieses Engagement?
Henne: Direkt kaum, aber die funktionalen Merkmale sind das Fundament, auf dem die Leistungsmerkmale stehen. Während den Leistungsmerkmalen eine direkte ökonomische Bedeutung zukommt, nach der sich auch die Gewichtung im Zuchtziel ableitet, fehlt dies bei funktionalen Merkmalen. Dennoch sollten sie im Zuchtziel so gewichtet werden, dass sie eine solide Basis bilden.
Wie wollen Sie konkret die Saugferkelverluste reduzieren?
Henne: Indem wir Geburtsgewichte und die Streuung im Wurf verbessern oder zumindest konstant halten. Dazu werden alle Ferkel individuell zur Geburt gewogen. Aktuell fließen im Bundeshybridzuchtprogramm über 500000 Ferkelgewichte in die Auswertung ein. Um die Arbeit zu erleichtern, wurde ein mit dem db.Planer gekoppeltes Wiegesystem etabliert. Dieses wird auch genutzt, um die individuellen Ferkelgewichte vom 15. bis zum 18. Lebenstag zu erfassen. Damit stehen auch Informationen zur Qualität der Ferkel und indirekt zur Milchleistung der Sau zur Verfügung. Zudem analysieren wir zusammen mit der Wissenschaft den molekulargenetischen und immunologischen Hintergrund der Überlebensfähigkeit und Vitalität der Ferkel.
Die Gruppenhaltung soll ausgedehnt werden. Gibt es hinsichtlich der Sozialverträglichkeit Fortschritte?
Henne: Ja, die gibt es. Denn das Gruppenverhalten ist zumindest in den Basiszuchtbetrieben gut erfassbar, und das Merkmal hat eine hinreichend hohe Erblichkeit. Soll allerdings die Gruppenhaltung bereits direkt nach dem Absetzen praktiziert werden, haben wir ein Problem mit rauschenden Sauen. Aktuell plant BHZP den Bau eines Basiszuchtbetriebes mit entsprechendem Deckzentrum, um dieses Verhalten näher betrachten zu können. Insgesamt das Rauscheverhalten der Sauen genetisch zu unterdrücken, wäre allerdings nicht zielführend.
Gibt es neue Erkenntnisse zum Problem Schwanzbeißen?
Henne: Das Problem ist, das Tätertier aufzuspüren. Aktuell laufen vielfältige Untersuchungen, bei denen man auf systematische Tierbeobachtungen bzw. Videoaufzeichnungen zurückgreift oder sich einer wurfweisen Aufstallung bedient. Auch suchen wir nach geeigneten, einfacher zu erfassenden Hilfsmerkmalen. Gewinnen wir bei der Merkmalserhebung mehr Klarheit, können auch molekulargenetische Methoden eingesetzt werden, um z.B. Stoffwechselentgleisungen zu identifizieren. Wir stehen am Anfang und sind aktuell noch ein erhebliches Stück von einer praktischen Anwendung entfernt.
Sehen Sie bei der Nutzungsdauer der Sauen Handlungsbedarf?
Henne: Trotz erheblicher Leistungssteigerungen liegen wir bei etwas über fünf Würfen. Somit bleibt es bei etwa 40% Remontierung. Allerdings gilt es, frühe Ausfälle zu vermeiden, um eine gute Altersstruktur der Herde zu erhalten. Zu diesem Zweck bauen wir auf das Merkmal Verbleiberate zum dritten Wurf.
Welche Rolle spielen die Anomalien?
Henne: Anomalien haben weiter einen wichtigen Stellenwert in der Selektion, sei es wegen der Tierverluste oder Mehrarbeit, wenn Ferkel operiert werden müssen. Die Anomalien konnten auf eine geringe Frequenz reduziert, aber nicht vollständig verdrängt werden. Kümmert man sich nicht darum, steigen die Raten schnell wieder an. Anomalien bleiben also ein Dauerthema.
Welche konkreten Ansätze verfolgt BHZP im Gesundheitsbereich?
Henne: Die Typisierung im Rahmen der genomischen Selektion eröffnet neue Möglichkeiten, z.B. auf Coli-resistente Tiere zu selektieren. Interessant ist derzeit das von der BLE geförderte Projekt PleuroRes. Hier werden APP-freie Ferkel aus unseren Zuchtlinien in Infektionsversuchen verwendet. Es zeigen sich Resistenzen, deren genetische Fundierung jetzt abgeklärt wird. Der Möglichkeit, Schlachtbefunddaten züchterisch zu nutzen, gehen wir im BHZP ebenfalls nach.
Wie erfolgreich sind die Anstrengungen zur Minimierung des Ebergeruchs?
Henne: Der Ebergeruch ist zu erheblichen Teilen genetisch bedingt. Mit etwa 50% haben wir sehr hohe Heritabilitäten für unsere Linien geschätzt. Das ist ein Eldorado für Züchter. Aus diesem Fundus bieten wir schon länger den Endprodukteber db.7711 gezielt für die Ebermast an. Allerdings müssen wir achtgeben, dass wir genetische Antagonismen zur Fruchtbarkeit rechtzeitig erkennen und beachten. Dazu laufen aktuell Forschungsarbeiten. Es muss jedoch auch klar sein, dass die Züchter keine Null-Lösung anbieten können.
Welche Rolle spielt bei funktionalen Merkmalen die genomische Selektion?
Henne: Die genomische Selektion bringt gegenüber der konventionellen BLUP-Zuchtwertschätzung Vorteile, wenn die Zuchtwerte damit genauer geschätzt werden können. Dies ist z.B. der Fall, wenn Merkmale erst sehr spät oder nur bei einem Geschlecht verfügbar sind. Gleiches gilt, wenn Merkmale nur an wenigen Tieren gemessen werden können, sie nur gering erblich sind oder nur bei Kreuzungsprodukten in notwendiger Menge anfallen. Viele funktionale Merkmale zählen zu diesen Kriterien. So z.B. die Nutzungsdauer, Aufzuchtleistung von Sauen oder Anomalien bei Mastferkeln, weniger dagegen die Anzahl funktionsfähiger Zitzen. Wichtig ist zu wissen, dass die genomische Selektion nur ein Verfahren zur Zuchtwertschätzung und maßgeblich auf gute Lernstichproben angewiesen ist. Der Schlüssel zum Erfolg liegt weiterhin in der systematischen Leistungsprüfung.
Wie geht es weiter?
Henne: Bei den derzeit initiierten Forschungsaktivitäten dominieren eindeutig die funktionalen Merkmale. Das zeigt, dass bezüglich des Tierwohls und der Fitness der Schweine weiter erhebliche Anstrengungen unternommen werden. Allgemein bleibt aber die Schwierigkeit, gering erbliche Merkmale so im Zuchtziel zu gewichten, dass erkennbarer Fortschritt erzielt wird, ohne marktgängige Kriterien zu vernachlässigen. Hier ist sehr viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl gefragt.