Schwanzbeißen stellt ein massives Problem dar. Egbert F. Knol und Stefanie Nuphaus von Topigs Norsvin erklären, wie sich mittels innovativer Techniken Tätertiere eingrenzen lassen.
Heinrich Niggemeyer, SUS
Wie sorgen Sie für intakte und soziale Jungsauen?
Nuphaus: Bevor die Jungsau in den Verkauf geht, wird sie mit ca. 150 Tagen selektiert. Drei bis 5% der vorgestellten Tiere weisen Bissspuren am Schwanz oder Ohr auf. Hier gibt es große Unterschiede zwischen den Vermehrungsbetrieben. Tiere mit Verletzungen gehen zum Schlachter, wenn die Wunde verheilt ist.
Wie finden Sie den Verursacher?
Knol: Bei der Selektion wird der Ausfallcode Kannibalismus vergeben. Das heißt, in der Bucht ist es definitiv zu Schwanzbeißen gekommen. Nehmen wir an, die Gruppe setzt sich aus zwei Opfertieren und acht unversehrten Schweinen zusammen. Eins der Tiere mit heilem Schwanz muss der Täter gewesen sein. Wir versuchen, über statistische Analysen potenzielle Tätertiere näher einzugrenzen.
Wie gelingt Ihnen das?
Nuphaus: Uns liegen beispielsweise Daten von über 60000 selektieren Jungsauen in rund 6000 Buchten vor. Nehmen wir an, in 800 Buchten gab es in irgendeiner Weise Kannibalismus und die Unversehrten in diesen Buchten mit Kannibalismus kommen als Tätertier infrage. Dann schauen wir nach, welche Pedigrees dahinterstecken und welche Familien wie oft unter Tatverdacht stehen. So lassen sich erste Schlussfolgerungen ziehen.
Knol: Wir haben großes Interesse, Zuchtläufer mit Aggressionspotenzial zu detektieren, weil wir glauben, dass diese Tiere später in der Gruppenhaltung ebenfalls unsoziales Verhalten zeigen. Auch deshalb beschäftigen wir uns intensiv mit der Zucht auf friedfertige, soziale Tiere. Geplant sind Zuchtwertschätzungen für Täter- und Opfertiere.
Setzen Sie bei der Tätersuche auch neue digitale Techniken ein?
Knol: Derzeit sind wir mit der Universität Wageningen dabei, ein sogenanntes Track- and Tracing-System aufzubauen. Zu diesem Zweck haben wir Buchten mit Spezialkameras ausgerüstet. Und das Auswertsystem wird trainiert, Verhalten zu erfassen und zu bewerten. Ist dieser Lernprozess abgeschlossen, sollen beispielsweise unsere Teststationen für die Eigenleistungsprüfung für potenzielle KB-Eber, die wir in Kanada und Norwegen betreiben, mit dem Tracking-System ausgerüstet werden.
Sie wollen Verhaltensauffälligkeiten in Teststationen erfassen?
Knol: Das Ziel ist, das Verhalten der Jungeber in der Gruppe zu erfassen und bei Auffälligkeiten entsprechend zu reagieren. Die Tiere sollen in jeder noch so schwierigen Situation ausgeglichen reagieren. Genau mit diesen Tieren wollen wir weiterzüchten.
Wie gut funktioniert das videobasierte Tracking?
Nuphaus: Die Versuche laufen noch. Bilder von Tieren in 10er-Buchten mit Futterstation werden via Internet übertragen und in einer Cloud gespeichert. Kollegen in Wageningen werten die Daten sukzessive aus. Das System identifiziert und verfolgt die Tiere automatisiert. Die Verfolgungs-Algorithmen funktionieren schon recht gut. Schwierig wird es, wenn zwei Schweine aufeinanderliegen bzw. ein Schwein über ein liegendes Tier steigt. Dann können die Tiere beim Tracking nicht nur ihre Identität verlieren, sondern Identitäten können wechseln, sodass Korrekturen notwendig werden. Um die Leistung weiter zu verbessern, soll eine zweite Kamera installiert werden, die aus einer anderen Perspektive das Geschehen erfasst.
Wie erkennt das System den Aggressor?
Nuphaus: Mittels der Bewegungsprofile ist möglich, die Aktivität und die Nähe zu anderen Tieren aufzuzeigen. Derzeit werden Algorithmen entwickelt, um an diesen Daten unsoziales Verhalten zu erkennen. Situationen wie ein schnelles aufeinander Zubewegen und Entfernen könnten z.B. für aggressive Interaktionen sprechen. Auch schnelle vertikale Kopfbewegungen könnten eine Beißattacke ankündigen.
Knol: Das System soll ungewöhnliche Situationen oder Konstellationen auch im Zusammenspiel mit der Futterstation melden. Ein Beispiel: Ein Tier betritt die Futterstation und direkt dahinter befindet sich ein zweites Tier. Nach wenigen Sekunden findet ein Wechsel an der Station statt. Wohl nicht freiwillig, da das erste Tier die Tagesration nicht abgerufen hat.
Sie setzen auf Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen?
Knol: Es ist alles andere als trivial, die Aktivität einzelner Tiere sowie die Dynamik in einer Gruppe automatisiert zu erfassen und korrekt zu bewerten. Wir brauchen das maschinelle Lernen, damit diese Aufgabe selbstständig in unterschiedlichsten Situationen gelöst werden kann. Dies ist ein Lernprozess, der ständig evaluiert werden muss.
Werden diese digitalen Innovationen die Zuchtarbeit verändern?
Knoll: Fakt ist, dass die Verhaltensmerkmale künftig in der Zucht eine wesentlich größere Rolle spielen werden. Wir wollen das videobasierte Tracking zur Messung der Belastbarkeit einsetzen. Uns geht es um Aggressionen und Schwanzbeißen, aber auch z.B. um mütterliches Verhalten. Wir sind davon überzeugt, dass durch das videobasierte Tracking und der intelligenten Datenanalyse der Zuchtfortschritt bei speziellen Verhaltensmerkmalen beschleunigt werden kann. Das Schwanzbeißen lässt sich aber nicht generell wegzüchten.
Nutzen auch Schlachthöfe diese Techniken?
Nuphaus: Um Schwanz- oder Ohrverletzungen am Schlachtkörper zu erfassen, können auch dort Spezialkameras und entsprechende Software zur Bildauswertung eingesetzt werden. Ich bin mir sicher: Der breite Einsatz dieser Techniken wird das Tierwohl in den Ställen weiter verbessern. Soft- und Hardware sind ausgereift und stehen kurz vor dem Durchbruch.
Wie können die Züchter profitieren?
Nuphaus: Daten von Schäden an Schwanz und Ohr sind für die Zucht nur relevant, wenn die Tiere eindeutig identifiziert sowie Pedigree und Bucht, d.h. Aufzuchtbedingung, bekannt sind. Bei einem routinemäßigen Scannen der Tiere aus unseren Prüfbetrieben würden wir mehr über die Opfertiere erfahren, bzw. bei welcher Buchtenzusammensetzung es welche Probleme gab und daraus Rückschlüsse ziehen.
Wie lässt sich die große Datenmenge beherrschen?
Knol: Die Aufgabe ist es, diese Vielzahl unterschiedlicher Informationen aus dem Nukleus, der Vermehrungs- und der Produktionsstufe zu verknüpfen, um sich ein vollständiges Bild zu machen. Neue Software-Tools und Analytics-Methoden werden uns helfen, Wettbewerbsvorteile zu generieren. Big Data und die entsprechenden Verarbeitungspraktiken bieten uns gute Chancen, künftig Tiere bereitzustellen, die in den jeweiligen Umwelten am besten zurechtkommen.
Welchen Einfluss haben Schwanz- und Ohrrandnekrosen?
Nuphaus: Das macht die phänotypische Erfassung der Verletzungen, die von aggressiven Tieren ausgehen, so schwer. Oft werden Bissverletzungen und Nekrosen verwechselt. Tiere mit Schwanznekrosen lassen sich möglicherweise eher von Buchtengenossen malträtieren als Tiere ohne Nekrosen, d.h. intakten Schwänzen. Oder der ständige Juckreiz macht die Tiere erst aggressiv. Da Nekrosen bereits bei Neugeborenen auftreten können, spielt auch die Zeit vor der Geburt eine Rolle. Ich bin mir sicher, wir werden in den kommenden Jahren mehr über die Hintergründe und Ursachen der Nekrosen erfahren und mit diesen Erkenntnissen das Phänomen bzw. die Zusammenhänge mit Schwanzbeißen besser einordnen können.
Gibt es frühe Einflüsse auch beim Schwanzbeißen.
Knol: Wir wissen, dass die ersten vier Lebenswochen als Ferkel das spätere Verhalten von Mastschweinen prägen können. Also spielen die Haltungsbedingungen der Ferkel eine Rolle, auch wenn die Beißprobleme möglicherweise erst viel später auftreten. Es ist sogar nicht auszuschließen, dass bereits Stresssituationen während der Trächtigkeit Einfluss nehmen. Deshalb sollte man beim Thema Schwanzbeißen den kompletten Lebenszyklus im Blick haben.