Die BHZP züchtet bereits seit vielen Jahren auf Gruppentauglichkeit bei Sauen. Was sind ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Voß: Im Rahmen von Forschungsarbeiten konnten wir schon 2008 zeigen, dass das Verhalten von Sauen beim Gruppieren auch von genetischen Faktoren beeinflusst wird. In unseren Basiszuchtbetrieben werden daher seitdem alle Stammsauen auf ihre Gruppentauglichkeit hin geprüft.
Wie genau prüfen Sie darauf?
Voß: Der Test findet bei Jungsauengruppen in den Eingliederungs- und Anlernphasen an der Abrufstation statt. Tiere, die sich hier im übertragenen Sinne wie ein angstbeißender Hund verhalten, also unbegründet Auseinandersetzungen anzetteln, selektieren wir direkt wieder aus.
Das Schwein lebt in hierarchischen Systemen und die Ausbildung einer Rangordnung gehört zu den normalen Verhaltensmustern. Durch die Selektion greifen wir in das normale Verhalten nicht ein, sondern wir suchen nur diejenigen Tiere heraus, die zu Überreaktionen neigen.
Zeigt diese Selektion weitere Folgen?
Voß: Ein weiterer positiver Effekt zeigte sich hinsichtlich des Lern- und Anpassungsverhaltens an neue Techniken. Tiere, die entspannter in der Neugruppierungssituation sind, gehen entspannter an neue Techniken und Umwelten heran. Neudeutsch würde man das heute „open mind“ nennen, also offen und aufgeschlossen allem Neuen gegenüber.
Ruhige Sauen wünscht man sich auch beim Abferkeln. Wie selektieren Sie hier?
Voß: Schon 2014 haben wir in der Basiszucht in Bewegungsbuchten investiert. Im Rahmen des Forschungsprojektes FreeSow haben wir dann standardisierte Verhaltenstests entwickelt, die die tägliche Routine mit freier gehaltenen Sauen abbilden. Wichtige Aspekte dabei waren die Sau-Ferkel- und die Sau-Mensch-Beziehung.
Einer dieser Tests ist z.B. der sogenannte Dummy-Arm-Test, bei dem die Situation des Ferkeleinfangens simuliert wird. Ein großer Anteil der Sauen reagiert sehr ruhig auf diese Situation. Sauen, die in diesem Test andeuten, ein Sicherheitsrisiko für Ihre Betreuer darzustellen, werden konsequent gemerzt.
Insgesamt zeigte sich, dass diese und weitere Verhaltenseigenschaften Erblichkeiten zwischen 13 und 19% aufweisen und sie daher geeignet sind, liebe und sowohl den Ferkeln als auch dem Menschen zugewandte Tiere zu selektieren.
Findet sich das auf dem Genom wieder?
Henne: Wenn das Merkmal neben den Umwelteffekten auch durch Vererbung geprägt wird, finden sich dafür verantwortliche Gene. Meistens sind diese nicht direkt bekannt, sondern wir bekommen Hinweise durch gekoppelte genetische Marker, sogenannte SNPs. Diese sind entweder schon auf dem für die Genotypisierung verwendeten SNP-Chip vorhanden. Oder sie werden neu darauf verankert, wenn es sich um bislang unbekannte SNP-Marker handelt.
Die SNP-Marker werden dann im Rahmen der genomisch optimierten Zuchtwertschätzung genutzt. Diese Zuchtwerte werden nicht nur für die klassischen Merkmale, sondern auch für Verhaltensmerkmale geschätzt und zur Selektion verwendet.
Seit 2018 züchten Sie aktiv gegen tot geborene Ferkel. Mit welchen Ergebnissen?
Voß: Durch die Selektion gegen tot geborene Ferkel konnten wir sowohl deren Anzahl pro Wurf als auch die prozentual tot geborenen Ferkel deutlich senken. Diese liegen aktuell bei unter 7%. Als indirekter Effekt selektieren wir damit zeitgleich auf leichte, unkomplizierte Geburtsverläufe. Kommen die Sauen gut durch die Geburt, hat man schon halb gewonnen. Die weitere Aufzucht der Ferkel verläuft wesentlich ruhiger, und damit gehen reduzierte Saugferkelverluste und frohwüchsige Ferkel einher.
Hatte das auch Einfluss auf die Geburtsgewichte?
Voß: Die Geburtsgewichte sind bei tot geborenen Ferkeln im Mittel geringer. Aber hier müssen wir berücksichtigen, dass nicht nur die sehr leichten, sondern auch die sehr schweren Ferkel Probleme bereiten. Deshalb selektieren wir nicht einfach auf Wurfgröße, sondern berücksichtigen auch die Geburtsgewichte und die Streuung der Gewichte im Wurf.
Sie waren auch am Projekt pigFIT beteiligt. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Henne: Das Projekt war auf Untersuchungen zur Ferkelvitalität ausgerichtet. Die Kolleginnen des Instituts für Tierwissenschaften der Universität Bonn haben hier sehr viel Grundlagenforschung zu Blut- und Immunparametern betrieben. Das mündet in die oben beschriebenen Wege, dass vorhandene oder neue SNP-Marker auf den SNP-Chips für die genomische Selektion verankert und damit genauere Zuchtwerte für die Ferkelvitalität geschätzt werden. Daneben haben wir auch sogenannte maternale Modelle für die Zuchtwertschätzung etabliert.
Was heißt das?
Henne: Mithilfe der Modelle kann man Merkmale wie Saugferkelverluste und Geburtsgewichte in den maternalen, also von der Mutter kommend, und in den direkten genetischen Effekt, der vom Ferkel selbst kommt, zerlegen. Mit anderen Worten: Wir schätzen dann recht gut, welchen Einfluss die Mutter auf das Geburts- oder Aufzuchtgewicht ihrer Ferkel und welchen Einfluss die Genetik des Ferkels selbst darauf hatte. Damit haben wir ebenfalls genauere Selektionsmöglichkeiten. Voraussetzung ist natürlich, dass wir sämtliche Ferkel in der Zuchtstufe individuell wiegen.
Ihnen ist eine balancierte Zucht sehr wichtig. Was verstehen Sie darunter?
Voß: Es macht keinen Sinn, ausschließlich auf einzelne Merkmale zu setzen. Große Würfe helfen nur, wenn die Sauen auch in der Lage sind, ihre Ferkel selbst aufzuziehen. Ein einfaches Beispiel ist die Anzahl Zitzen. Aus unserer Sicht sollte diese im Einklang mit der Wurfgröße bleiben, sonst müssen das Management und Ammen das auffangen. Ebenso macht es keinen Sinn, extrem fruchtbare Mutterlinien zu züchten, wenn die Mastleistung bei ihren Nachkommen nicht passt. Es müssen also viele Merkmale im Zuchtziel in Einklang gebracht werden. Das verstehen wir unter balancierter Zucht.
Was kann die Zucht tun, damit das Halten von unkupierten Tieren besser klappt?
Henne: Ein ganz schwieriges Thema. Aus unserer Sicht ist es wichtig, gegen die Täter zu selektieren. Am besten würden wir das Täterpotenzial jedes Tieres kennen. Dazu eine Datengrundlage in den Zuchtbetrieben zu erarbeiten, ist extrem schwierig. Im BHZP versuchen wir, die Täter über Tierbeobachtungen oder den gezielten Einsatz von Videotechnik zu identifizieren. Ist ein Täter gefunden, werden dieser, alle Geschwister sowie die Mutter gemerzt.
Was macht manche Tiere zum Täter?
Henne: Wir gehen aktuell davon aus, dass Tiere, die sich schnell stressen lassen, eher zum Schwanzbeißer werden. Auslösende Umweltfaktoren wie schlechtes Stallklima, Fütterungsdefizite oder Gesundheitsprobleme sind letztendlich Stressoren, auf die die Tiere unterschiedlich schnell und heftig reagieren. Es gibt also stressresiliente Tiere und solche mit niedriger Reizschwelle, die schnell zum Beißer werden.
Wie nutzen Sie diese Erkenntnisse?
Henne: Aus diesem Ansatz haben wir einen standardisierten Stresstest entwickelt, für den wir hohe Erblichkeitsgrade ermittelt haben. Wir können damit auf eine höhere Stresstoleranz selektieren. In der Praxis erhobene Daten zeigen, dass diese Tiere auch weniger zum Schwanzbeißen neigen. Positive Eber werden gezielt in Zuchtbetrieben eingesetzt, in denen auf das Schwanzkupieren zunehmend verzichtet wird. Es ist ein guter Weg, aber auch kein Allheilmittel. Die Umwelt sollte man auch für diese Tiere bestmöglich gestalten.
Was könnte es bringen, züchterisch die Länge des Ringelschwanzes zu bearbeiten?
Henne: Im Rahmen einer Doktorarbeit wurde das analysiert. In einem Nukleusbetrieb wurden Schwanzlänge, -durchmesser und -deformationen bei mehr als 6000 Ferkeln gemessen. Die geschätzten Erblichkeitsgrade zeigen, dass die Schwänze kurz gezüchtet werden könnten. Allerdings ist der Zusammenhang zum Geburtsgewicht wie erwartet extrem eng. Gegen Schwanzlänge zu selektieren, würde die Geburtsgewichte unverhältnismäßig reduzieren. Aus diesem Grund haben wir das Projekt nicht weiterverfolgt.
Welche Bedeutung hat Künstliche Intelligenz in Ihrer Zuchtarbeit?
Henne: Wir experimentieren in diversen Versuchen. Das Potenzial der Künstlichen Intelligenz (KI) ist hoch, die Leistungsprüfung zu verbessern. Konkret sind das Themen wie Kontrolle von Geburtsverläufen, Auswertungen von Bewegungsabläufen oder Bewegungsmustern.
Im letzten Fall bestehen noch Grenzen insbesondere bei der Tiererkennung in der Gruppe. Auf den Videos sind Ohrmarken kaum lesbar, die Tiere müssen also mittels Oberflächen, Gesichtserkennung etc. identifizierbar sein. Das ist momentan noch die größte Herausforderung. Gelingt es, dieses Problem zu lösen, werden Merkmalserfassungen und Auswertungen mittels KI zügig in die Zuchtpraxis übernommen.
Auch die Nachhaltigkeit spielt eine wichtige Rolle. Wie ist der aktuelle Stand?
Henne: Wir gehen davon aus, dass die Ressourcenschonung in den nächsten Jahren eine überragende Rolle spielen wird, und dort auch die Zucht gefordert sein wird. Eine hohe Effizienz wird über Merkmale wie Futterverwertung und Selektion gegen Tierverluste seit langem betrieben.
Sicher wird das Schwein seine Zukunft als klassischer „Resteverwerter“ heimischer Futtergrundlagen haben. Daher stellt sich die Frage, ob Schweine, die bei optimierter Futterration die besten sind auch unter qualitativ reduzierter Fütterung, z.B. bei N- und P-Reduktion, die besten bleiben oder ob wir hier andere Tiere selektieren würden. Diese Frage soll im Verbundprojekt EffiPig beantwortet werden, damit wir entsprechend früh die Fütterung in der Leistungsprüfung anpassen können. Die Datenerfassung ist inzwischen abgeschlossen, die Auswertungen laufen momentan.